Hartplatzhelden-Kolumne # 62: Alle fordern Vielfalt und Diversität im Fußball. Ich auch, aber ich denke vor allem an eine Minderheit, an die sonst keiner denkt: uns Amateure. Von GERD THOMAS
Mit großer Attitüde schwingen sich immer mehr Menschen auf, den Fußball in Deutschland zu retten. Ex-Funktionäre, Fanforscher, Investorinnen, Medienschaffende. Dem DFB werden jede Menge Tipps geschenkt: Zu wenig Haltung! Zu viel Politik! Zu wenig Konzentration auf den Sport! Zu viele Dilettanten! Zu wenige Frauen! Und vor allem: Zu viele alte weiße Männer!
Eine Bezeichnung, die auf Aki Watzke, Rudi Völler und Karl-Heinz Rummenigge zutrifft. Auf mich im Übrigen auch, aber ich habe nicht ansatzweise deren Bedeutung. In diesen Topf werden allerdings auch Menschen in den besten Jahren wie Oliver Kahn, Matthias Sammer, und sogar Oliver Mintzlaff geworfen werden.
Ein Mitglied der zweiten DFB-Taskforce heißt übrigens Philipp Lahm und ist 39. Viele Protagonistinnen der Diskussion wie Katja Kraus, Claudia Neumann, Gaby Papenburg sind ebenfalls längst dem Teenageralter entrückt, na und? Ok, Almut Schult und Tabea Kemme sind erst 32, aber mir ist das Alter ohnehin egal. Was mir nicht egal ist: Sie alle leisten mit der Kampagne „Fußball kann mehr“ einen Beitrag zur Stärkung der Frauen im Fußball. Andererseits, Gianni Infantino, der Mephistopheles (oder Fantomas) des Weltfußballs, wurde bereits mit 45 Fifa-Präsident. Ich kenne viele ältere Menschen, die geistig flexibel, immer offen für Neues sind, noch dazu den Vorteil jahrelanger Erfahrung mitbringen. Rege Köpfe wie die Hartplatzheldin Ute Groth oder Michael Franke sind leuchtende Beispiele, dass älter nicht verstaubt heißen muss – vom 84-jährigen Bundesverdienstkreuzträger Engelbert Kupka ganz zu schweigen.
Gleichwohl fällt auf, dass es um die Vielfalt im deutschen Fußball tatsächlich schlecht bestellt ist, aber anders als kolportiert. Menschen mit Zuwanderungshintergrund fehlen fast vollständig in den Gremien. Ebenso sind Aktive und Coaches aus dem Amateurbereich kaum Teil der Diskussion. Von Jugendlichen, Menschen mit Einschränkungen, auch aus ländlichen Gebieten, holen wir nur höchstselten Expertise ein. Aber sie alle sind die Basis. Sie sind 99 Prozent des Fußballs! Ohne sie ginge in der Bundesliga nichts, doch kaum jemand nimmt sich ihrer Sorgen an. Wir Hartplatzhelden bemühen uns darum. Allerdings ändert das wenig daran, dass die Diskussionen um den Fußball in der Regel elitär sind. Das spiegelt sich in den Medien wider. Und ob die teure DFB-Akademie etwas ändern wird, ist in Zweifel zu ziehen.
Die Süddeutsche Zeitung schrieb unlängst über die schwindende Bereitschaft von Sponsoren, sich in der Breite zu engagieren. Dabei wäre es notwendig, auch kleine und mittlere Vereine zu unterstützen, etwa deren Jugendarbeit für Mädchen und Jungen. Gern werden hehre Ziele wie Teilhabe, die Stärkung von Körper und Geist, die Stabilität der Demokratie und neuerdings die Nachhaltigkeit in den Clubs beschworen. Jüngst durfte ich in einem Podcast über nachhaltige Jugendarbeit sprechen. Doch investiert wird vor allem in die Elite, inzwischen längst nicht mehr nur bei den Männern. Klar, gleiches Recht für alle, aber wie kriegen wir dieses Recht für die 99 Prozent an der Basis hin?
Es gibt jede Menge Experten-, Taktik- und Scouting-Plattformen, doch das ist es nicht, was den Coaches und Vorständen der Breitensportvereine fehlt. Es fehlt an praktischer Unterstützung für die Funktionsfähigkeit der Vereine. Davon gibt es wenig, eine Ausnahme stellt die nimmermüde Marthe Lorenz mit ihrer Organisation „Klubtalent“ dar. Immerhin stellt der DFB auf seinen digitalen Seiten eine Reihe von Best-Practice-Beispielen zur Verfügung, eine Forderung des letzten Amateurkongresses. Sonst hört man von den im Präsidium für Jugend und Amateure Zuständigen sehr wenig zur Zukunft des Breitenfußballs. Demnächst stehen zwischen Profis (DFL) und Amateuren (DFB) wieder Verhandlungen über die Verteilung der TV-Milliarden an. Aber welche Position vertreten die Verhandler für die Basis? Wie kommt ein Forderungskatalog zustande? Wer wird zu Rate gezogen?
Auch über die Trainer- und Schiedsrichterausbildung muss geredet werden, diese orientiert sich ebenso an der Elite. Wobei mit Manuel Gräfe der beste deutsche Schiedsrichter aus Altersgründen gezwungen wurde aufzuhören. Vielleicht war er einfach zu ehrlich. Wir müssen diskutieren, wie wir mit den Problemen im Ehrenamt umgehen, wie wir noch Menschen finden, die bereit sind, die Jugendleitung zu übernehmen. Hinzu kommen die durch Corona verschärften Probleme bei Kindern, die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten und
Bewegungsprobleme. Ohne Computerspiele und Social Media verteufeln zu wollen, bringen diese doch Schwierigkeiten mit sich, wie viele Jugendcoaches und Lehrkräfte nicht erst seit den jüngsten Tik-Tok-Trends bestätigen.
In Berlin und anderen Ballungsräumen haben viele Vereine Aufnahmestopp, weil es nicht genügend Sportstätten gibt. Nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen aber viele Menschen mit Fluchtgeschichte vor den Vereinstoren und möchten mitmachen. Fußball ist Integration, wie alle so gern behaupten. Wirf einen Ball in die Mitte, und der Weltfrieden bricht aus. So die Theorie. In der Praxis sind viele Vereine überfordert, fehlen vielen Ehrenamtlichen interkulturelle Kompetenzen, was nicht als Vorwurf zu verstehen ist.
Doch Jammern hilft nicht weiter. Stattdessen müssen wir einen Paradigmenwechsel „Pro Amateursport“ einleiten. Die Europameisterschaft 2024 könnte helfen, denn eben die Basis von Vereinen und Fans soll dafür sorgen, dass wir ein zweites Sommermärchen (hoffentlich ohne die finanziellen Begleitumstände) schaffen. Im „Berliner Netzwerk Fußball & Gesellschaft“ arbeiten wir sogar in einer Kombination aus klassischen Sportorganisationen wie dem FC Internationale oder dem Landessportbund und nicht vereinsgebundenen Organisationen wie buntkicktgut, common goal, Amandla Safe-Hub, Gesellschaftsspiele, Sport handelt fair oder Champions ohne Grenzen daran, die Europameisterschaft zu einem Fest für möglichst viele Gruppen in der Stadt werden zu lassen. Dazu ein anderes Mal mehr.
Der DFB-Präsident Bernd Neuendorf hat angekündigt, einen Amateurkongress durchzuführen. Dieser muss so schnell wie möglich kommen. Ich empfehle die Beteiligung der Basis schon bei der Vorbereitung. Ein Ziel sollte sein, den Amateurfußball für Unternehmen und Menschen attraktiv zu machen, die in der Lage sind, diesen als Sponsoren zu unterstützen. Nicht, um auch in der Kreisliga überhöhte Gelder an die Spieler zu zahlen, sondern um die Strukturen der Vereine zu stärken. Von einem Amateurkongress muss ein Ruck ausgehen, der dem Fußball an der Basis einen echten Aufbruch beschert. Der Innovationen einleitet, Antworten auf die Herausforderungen bringt oder einleitet und einen Imagewechsel initiiert. Der den großen Wert des Amateurfußballs für die Gesellschaft verdeutlicht und klarmacht, dass unser Sport aus mehr als dem sichtbaren einen Prozent besteht. Die Euro 2024 steht im Zeichen der Nachhaltigkeit. Für mich sind dabei nicht zuletzt nachhaltige und belastbare Strukturen in den Clubs wichtig. Ohne die Vereine in der Breite ist der Fußball in Deutschland nichts. Ohne Basis kein Fußball, so einfach ist das. Rettet die Amateure. Wir sind 99 Prozent!
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