Wir befinden uns im Jahr 2022 n. Chr. Deutschland hat sich auf Regeln des demokratischen Miteinanders wie Transparenz und Fairplay geeinigt. Ganz Deutschland? Nein! Ein von unbeugsamen Funktionären besetztes Präsidium hört nicht auf, Widerstand zu leisten.
Die Rede ist vom DFB, der am 11. März seinen Präsidenten wählt. In dessen Gremien sitzen keine renitenten Gallier, die gegen Eindringlinge aufbegehren, sondern in Schlachten gestählte Funktionäre. Es gibt keine Fischhändler oder Barden, doch es finden sich Häuptlinge, listige Strategen, Männer fürs Grobe und manchmal hat man den Eindruck, es wird eine Zaubertrank-Zeremonie abgehalten.
Beharrlich weigert sich die von den 21 Präsidenten der Landesverbände dominierte Gruppe, ihre Regeln denen der Republik anzupassen, zum Beispiel mit geheimen Wahlen, bei denen alle sieben Millionen Mitglieder des DFB eine Stimme haben, so wie es unsere Demokratie seit 1949 schätzen gelernt hat.
Doch es regt sich zunehmend Kritik am Verhalten der Funktionärsriege. Ein langjähriger Kenner des Verbands zitiert gern das Sprichwort: „Wer will, findet Wege. Wer nicht will, findet Gründe.“ Soll heißen: Strukturelle Veränderungen wären möglich (und nötig), sind aber nicht gewünscht.
Tatsächlich gibt es nun zwei Kandidaten, Bernd Neuendorf und Peter Peters, und zumindest eine Abstimmung, auch wenn die Spielregeln noch nicht ganz feststehen. Man muss sich das nicht vorstellen wie eine Wahl zum Bundestag oder wenigstens eines Vereinsvorstands, wo alle stimmberechtigten Mitglieder eine Stimme haben. Nur eine kleine, in vielen Landesverbänden völlig intransparente Gruppe, darf wählen. Nach welchen Kriterien die Stimme vergeben wird? In Berlin bekamen wir nicht einmal im Beirat (eine Art Aufsichtsrat des Verbandes) eine Antwort. Chefsache eben! Über das Procedere und die überholten Strukturen ist vielerorts geschrieben worden. Mich umtreibt viel mehr, warum es eigentlich nicht um Inhalte geht.
Denn der deutsche Fußball ist in einer tiefen Krise: Mitgliederschwund, Schiedsrichtermangel, Corona, Rückgang des Ehrenamts und marode Sportstätten. Viele Vorstände in den 24.500 Vereinen sind fassungslos, dass in diesen schwer zu bewältigenden Zeiten nun auch noch das Image des deutschen Fußballs ramponiert wird. Durch dubiose Geldzahlungen an vermeintliche Amateure, durch aus dem Ruder gelaufenen Gehälter, Handgelder und Ablösen bei den Profis, aber vor allem durch die fast schon unterirdische Außendarstellung des DFB und dessen ehrenamtliche Präsidiumsmitglieder. Wobei ich mir überlege, auch für einen DFB-Vizeposten zu kandidieren. Denn mehr als 5.000 Euro monatlich für ein Ehrenamt wäre nicht übel, die fast 250.000 für die Vertretung bei der Uefa wären noch besser.
Warum ringen wir nicht um Konzepte gegen den Rückgang der Jugend, für die Gewinnung neuer Unparteiischer, für Rezepte zur Rekrutierung von Ehrenamtlichen? Warum fordert niemand beim DFB von der neuen Regierung mit Nachdruck eine Sportstätten-Offensive, unter aktiver Einbeziehung der Basis. Weit mehr als zehn Millionen Wahlberechtigte bringen die Fußballerinnen und Fußballer nebst ihrer Umfelder aus Familie und Freunden auf die Waage. Das kann sonst niemand von sich behaupten. Doch Fußball wird fast nur mit Profisport in Verbindung gebracht.
Auch in Sachen gesellschaftlicher Verantwortung hört man wenig. Wie steht der Fußball zu Wutbürgern und Querdenkern? Wie soll sich ein Vereinsvorstand verhalten, wenn er selbst mit besten Argumenten gegen Impfverweigerer nicht weiterkommt? Wie soll er mit Corona-Leugnern umgehen? Wie begegnen wir den zunehmend verhaltensauffälligen Kindern, den größten Verlierern der Pandemie? Das ist jeden Tag Realität in den Vereinen. Der Öffentlichkeit versucht man, mit dubiosen Studien zu vermitteln, die Fußballherren da oben würden das schon machen. Wie immer in den letzten Jahren. Mit den bekannten Gesichtern, mit den bekannten bescheidenen Ergebnissen. Wann gibt es eigentlich eine Abstimmung über das Geleistete, wie es in der Politik üblich ist? Oder muss niemand Verantwortung übernehmen?
Die Süddeutsche Zeitung zitiert Meikel Schönweitz, den Cheftrainer aller U-Nationalteams: „Wir sehen, dass wir in einzelnen Jahrgängen nicht mehr zehn oder zwölf, sondern oft nur noch eine Handvoll Toptalente haben.“ Die Antwort der DFB-Spitze auf das Versagen der letzten Jahre ist eine Akademie, die den Eindruck eines fernen Raumschiffs vermittelt, in das ein Amateur nur zu Besuchszwecken (womöglich gegen Entgelt) seinen Fuß setzen wird.
Was passiert eigentlich, wenn das Zentralorgan in der Akademie den falschen Plan entwickelt? Wäre es nicht klüger, die erfahrenen Leute an der Basis zu fragen, welche Rezepte es geben könnte? Nicht nur Sportwissenschaftlerinnen, auch Trainer empfehlen, viele verschiedene Wege zu probieren. Viel wichtiger ist aber, wie wir die Bedingungen auf den Fußballplätzen der Amateure verbessern. Denn dort verlieren wir jedes Jahr Tausende von Talenten, weil die Bedingungen immer schlechter werden.
Der Vorstand eines gewissenhaften Vereins versucht verzweifelt, Rezepte für die Gewinnung von genügend Übungsleitern zu finden. Demografische Entwicklungen und ein immer mehr nach Fachkräften lechzender Arbeitsmarkt machen die Bemühungen aber schwierig. Derweil umtreibt viele Vorstände etwas anderes, nämlich die Haftung für dieses und jenes: Die Aufsicht für die Kinder, die Einhaltung der Coronaregeln oder die Verantwortung für Bauten und Personal. Neuendorf und Peters sind sich immerhin einig, dass das Image des Verbandes so katastrophal ist, dass sich vieles ändern muss. Papier, auf dem die Interviews erscheinen, ist bekanntlich geduldig.
Ich würde die Person wählen, die mir glaubhaft versichert, es mit dem Neuanfang ernst zu nehmen. Der eine wähnt die Landesfürsten hinter sich, der andere die Profivertreter. Doch wer hat inhaltlich wirklich etwas zu bieten? An der Basis hat sich Fatalismus breit gemacht. Die meisten sind so abgegessen, dass sie sich kaum noch für das Kasperltheater an der Spitze interessieren, zumal kaum jemand versteht, was da eigentlich vor sich geht.
Die Probleme werden sich aber nicht in Luft auflösen. Viele Vereine finden schon jetzt keine Vorsitzenden, keine Schatzmeister, keine Jugendleitungen mehr. Ich selbst habe am DFB-Masterplan mitgearbeitet. Viele Probleme sind identifiziert worden. Doch konkrete Lösungsansätze sehe ich wenige. Ein Weiter so wird vielen Vereinen den Garaus bescheren. Ich würde nicht darauf wetten, dass die Funktionäre in DFB und Landesverbänden das wirklich interessiert. In der Regel gibt es zum Tod eines Clubs oder einer Jugendabteilung ein müdes Schulterzucken, in Berlin finden viele im Präsidium ohnehin, es gebe zu viele Vereine. Dabei gibt es in diesen Vereinen Ideen zu Partizipation oder Transparenz, aber auch zu neuen Konzepten. Doch sollen die Vereinsvertreter überhaupt noch Fragen stellen oder gar Kritik äußern? Von den beiden Kandidaten hat man dazu bisher nichts gehört.
Gerd Thomas
Gerd Thomas ist seit 2017 Erster Vorsitzender (seit 2003 im Vorstand) des FC Internationale Berlin. 2013 zeichnete der DFB den Verein mit dem Integrationspreis aus.